Prolog
Ein Mittwochnachmittag im November, Hamburg Hauptbahnhof, der ICE gen München fährt ein; wie üblich ein paar Minuten verspätet. Kein Wunder, er hat ja bereits die weite Strecke von Altona zurückgelegt. Den Nicht-Hanseaten sei verraten, Altona ist ein Stadtteil der Hansestadt. Von da an läuft alles planmäßig, also nicht wie üblich. In Hannover hat der Zug die zweiminütige Verspätung wieder eingefahren, Göttingen und Kassel werden auf den (Zeit)punkt getroffen. Entspannung breitet sich in mir aus, mein Anschluss in Würzburg ist nicht gefährdet. Doch dann kommt Fulda.
Pünktlich verlässt der Zug den Bahnhof der Barockstadt. Geschätzte 1000 Meter schafft er. Plötzlich steht alles. Nach zwei Minuten die Durchsage: "Dies ist ein außerplanmäßiger Halt." Uff, jetzt bin ich beruhigt. Dachte schon, die wollten hier halten. Es folgt die nächste Durchsage: "...aufgrund einer Baustelle verzögert sich..." Ach, eine Baustelle. Na das konnte wirklich niemand vorhersagen. Das hört man immer öfter. Diese plötzlich auftretenden Ad-hoc-Baustellen. Was für'n Glück, dass die unsere Strecke noch sperren konnten. Wir wären glatt in den Gegenzug gerast.
So aber warten wir. Warten. Warten. Auf den Zug, der uns entgegenkommt. Warten. Noch ein bisschen.
Endlich ruckt der Zug. Es geht weiter. Langsam. Wie heißt es? "Wenn Du es eilig hast, gehe langsam." Das Motto der Bahn, oder? Kurz vor Würzburg die Durchsage: "Wir haben derzeit 12 Minuten Verspätung." Die Anzeige im Zug zeigt: "Ankunft 18:29, Uhrzeit 18:43" Rechnen können die also auch nicht. Toll. Bleiben mir -7 Minuten (in Worten: Minus Sieben) für den Umstieg. Das wird nix mehr.
Und es kommt wie es kommen muss: Anschluss verpasst. Der nächste? In zwei Stunden. "Schafft der denn meinen nächsten Anschluss?" "Tut mir leid, das kann ich ihnen nicht sagen." Toll. "Und wenn ich in Würzburg übernachte?" "Morgen beginnt der Streik. Ich kann ihnen nicht sagen, ob sie morgen weiter kommen." Toll. Bleibt nur eins: Taxi. :-( 120,- Euro.
Der Streik
Glücklich, dass ich angekommen bin; der Schaden (120) hält sich in Grenzen; nicht wirklich, aber es hilft, wenn ich mir das einrede. Bin ja beruflich unterwegs, kann es möglicherweise erstattet bekommen. Aber jetzt schleicht sich das ungute Gefühl ein: Was mache ich am Freitag? "Der größte Streik in der deutschen..." (siehe oben).
Donnerstag kommt, Donnerstag geht. Freitag kommt.
Welcher Zug fährt? Das Früstücksfernsehen macht Überstunde (nur eine). Thema: "Der größte Streik in der deu.." (ja, das kennen wir nun). ICE-Verbindungen sehen gut aus, die meisten, auch meine. Na ja, ich fahre ja erst gegen 18 Uhr. Mit der S-Bahn. Und dem Regional"express". Schau'n wir mal.
Um 17 Uhr ein letzter Blick ins Netz. Keine Aussage über die S-Bahn. Vom RE fährt nur jeder zweite. Mmmh. Also auf dem Weg zum Bahnhof nochmal zum Geldautomaten. 150 Euro sollten im worst case für's Taxi bis Würzburg reichen.
17:50 Uhr auf dem Bahnsteig. Normal voll mit Menschen. Wissen die mehr als ich? Oder probieren die auch aus, was geht?
17:53 Uhr. Die S-Bahn! Fast pünktlich (also wie üblich). Prima, mindestens das erste Teilstück werde ich damit schaffen.
18:23 Uhr. Einfahrt in den Umsteigebahnhof. Pünktlich. Und dann die Durchsage: "Sie haben Anschluss an den RE ... nach Würzburg, Abfahrt 18:27, Gleis 4". Ein Wunder.
Und er rollt pünktlich ein! Sieht aus wie der Hogwarts-Express. "Nie im Leben ist der echt!" "Bestimmt geht noch was schief!" — Nein. Nichts geht schief. Scheinbar streikt nur der Zugbegleiter. Ohne Lautsprecherdurchsage fährt der RE in den Bahnhof von Würzburg ein.
10 Minuten. Nochmal: ZEHN Minuten. Solange habe ich Zeit für den Umstieg. Das gab's noch nie! Ruhig ist es im Bahnhof. Zumindest auf den Bahnsteigen. In den Katakomben wuseln ein paar Fahrgäste herum. Aber auf den Bahnsteigen. Ruhe. Auf meinem Bahnsteig stehen Menschen und warten auf den ICE. Die anderen Bahnsteige sind leer. Diese Ruhe ... unwirklich. Und als ob es abgesprochen wäre, kommt er. Der ICE. Genauso leise. Langsam schleicht er in den Bahnhof. Langsam? Na klar! Er ist zu früh! "Nie im Leben ist der echt!" Doch, ist er! Das ist keine Magie, kein Zauber, kein Wunder. Nichts davon könnte Bahnfahren zu einer ruhigen. pünktlichen, zuverlässigen Angelegenheit machen. Da ist eine andere Macht am Werk: Streik! Streik ist das Zauberwort. "Der größte Streik in der d..." (ja, ist ja gut). Kein mickriger, kleiner Streik. Kein armseliger Provinzstreik. Kein Streik von Weicheiern. Hier sind echte Männer am Werk. Nur der "größte aller Streiks" kann das vollbringen. Pünktlichkeit. Zuverlässigkeit. Ein Traum.
Und nun? Verhandlungen! — WAS? Seid ihr Lokführer oder Memmen? 8 bis 13 Prozent? Kein Tarifvertrag? Dafür geht ihr an den Verhandlungstisch? Zieht ein Deutscher Lokführer den Schwanz ein? Für 30 Prozent seid ihr angetreten! Reißt euch am Riemen! Streikt das jetzt zu Ende! Wir brauchen euch. Wir brauchen den Streik. Das seid ihr uns schuldig. Für Jahre der Bahnqualen, der Ungewissheit, der Verspätungen. Ihr streikt nicht nur für euch, ihr streikt für ganz Deutschland! Wo ist euer Patriotismus? Nur wenn ihr die Gleise leer lasst, kommen die anderen Züge durch! Deshalb: Jetzt nicht schwächeln, Lokführer! Unbefristet ist die einzige Lösung! Meine nächste Bahnfahrt wirft schon ihren eisige Schatten voraus. Ich zähle auf euch, GDL'er! Lasst mich nicht hängen. Bleibt zuhaus!